Serendipity oder Kulturtransfer als Virus
Auf der Basis von Firdausis Nationalepos Shaname entsteht ein Genre persischer Erzählkunst, zu dem auch 1001 Nacht gehört; eine indische Variante davon wird durch Christoforo den Armenier in Venedig ins Italienische übersetzt; de Maillys französische Nachdichtung etabliert diesen Stoff unter dem Titel Die Abenteuer der drei Prinzen von Serendip in Europa; eine Passage daraus wird sowohl von Voltaire wie von E. A. Poe aufgegriffen und zum Katalysator eines neuen Genres: der Detektivgeschichte; über Horace Walpole wird über den Namen „Serendip“ der Begriff „Serendipity“ gebildet, der in der Wissenschaftssoziologie heute verwendet wird, um eine bestimmte Form von Entdeckung zu bezeichnen. – Vorgestellt wird eine Entwicklung, die ein Motiv über zwei Jahrtausende durchläuft, indem es von immer wieder anderen Kulturen und Kontexten aufgegriffen wird. Zugleich ist dies ein Beispiel von Kulturtransfer, das auch deshalb selten ist, weil sich die Bedingungen des eigentlichen Kulturkontakts – von Orient und Okzident in Venedig – detailliert aufzeigen lassen. Um die Dynamiken dieses Kulturtransfers zu fassen, bietet sich die Analogie zum Virus an: als Informationsträger, der sich an einen jeweils neuen Wirt anpasst und mutiert.
Raoul Schrott
Raoul Schrott ist Schriftsteller und Übersetzer sowie Privatdozent für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck; Schwerpunkte: Poetologie, Antike, Dada. Letzte wissenschaftliche Veröffentlichungen: Die Blüte des nackten Körpers – Liebesgedichte aus dem alten Ägypten (2011); Homers Heimat – die realen Hintergründe des trojanischen Krieges (2008); mit dem Neurolinguisten Arthur Jacobs Gehirn und Gedicht – wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren (2010).
Kolloquium Kulturtransfer
PD Dr. Raoul Schrott, Universität Innsbruck
Prof. Dr. Oliver Lubrich, Universität Bern
Datum: 24. Mai 2013
Zeit: 09:15 - 16:30/17:45 Uhr
Ort: Universität Bern, Unitobler, Lerchenweg 36, Raum F-106
Oliver Lubrich
Oliver Lubrich ist seit 2011 Professor (Ordinarius) für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Bern. Zuvor war er Juniorprofessor für Rhetorik am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie im Exzellenzcluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität Berlin. Gastdozenturen an der University of Chicago (2005), der California State University in Long Beach (2006), am Tecnológico de Monterrey (2007) und an der Universidade de São Paulo (2010). Bücher über Shakespeares Selbstdekonstruktion (2001) und Postkoloniale Poetiken (2004, 2009). Oliver Lubrich ist (Mit-)Herausgeber der Werke Alexander von Humboldts, u.a. Kosmos (20043), Ansichten der Kordilleren (2004), Ueber einen Versuch den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen (2006), Anthropologische und ethnographische Schriften (2009), Politische und historiographische Schriften (2009) und Zentral-Asien (2009). In seinem aktuellen Forschungsprojekt dokumentiert er die Berichte internationaler Autoren, die das nationalsozialistische Deutschland besucht haben: u.a. in Reisen ins Reich (2004, 2009; Voyages dans le Reich, 2007; Travels in the Reich, 2010) und Berichte aus der Abwurfzone (2007).