In der Zeitmaschine. Revivals, Anachronismen, Gespenster.
Begriffe für den praktischen Umgang mit historischem Material fangen auffallend häufig mit der Vorsilbe „Re-“ an. Relikt, Reliquie, Rekonstruktion: Etwas wiederholen – im doppelten Sinn des Wortes. Das Als-ob einer Reise in die Vergangenheit, ermöglicht durch die möglichst genaue (und gleichzeitig möglichst fantasievolle und einfühlsame) Arbeit an alten Texten, Bildern und Artefakten, ist Grundlage vieler Disziplinen, von Geschichte und Archäologie über die Philologien bis zur Kunst- und Bildwissenschaft. Manövrieren in der Zeit ist ihr Kerngeschäft. Die Wissenschaftlerin und ihre männlichen Kollegen sind nicht nur Spezialisten für den Umgang mit Gegenständen – Überresten –, in denen Vergangenheit gewissermassen gespeichert ist. Sie stellen sich auch gerne als Forschungsreisende in jenes fremde Territorium „Damals“ dar.
Von solchen Zeitreisen handelt der Vortrag. Nur ist die Vergangenheit kein sehr übersichtliches Gelände, eher eine Art Höhlensystem. Unsere Berichterstatter stolpern und fallen unversehens in andere Epochen. Sie finden sich in Zeitfalten wieder, in denen ältere Ereignisse übereinander zu liegen kommen und Abläufe, sich wiederholend, ihre Richtung ändern. Gegenstände und erst recht Bilder können ohne weiteres mehreren Epochen gleichzeitig angehören und sie miteinander vermengen. Vergangenheit ist offensichtlich kein erstarrtes und für immer stillgestelltes „Damals“, sondern belebt: Bewohnt von Untotem, von quasi lebendigen (und jedenfalls höchst veränderlichen) Gegenständen, und von recht auskunftsfreudigen Gespenstern.
Dabei geht es nicht nur um gute Geschichten, sondern um zentrale Aufgaben der humanities im klassischen Sinn. Und zwar seit ziemlich langer Zeit. Der tatsächlich weitgereiste Humanist Cyriaco d’Ancona schrieb im 15. Jahrhundert, seine Arbeit sei, „mit den Toten zu sprechen“. Aber kann man sich auf deren Aussagen verlassen? Das Cover von H.G. Wells’ Science Fiction-Novelle The Time Machine, erstmals erschienen 1895, zeigt ein untotes Ungeheuer aus der Antike – die Sphinx. Die Kulturwissenschaften der Moderne, so Aby Warburg 1929, produzierten „Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene“. Was bedeutet das für den praktischen Umgang mit Vergangenem im 21. Jahrhundert?
Valentin Groebner
Valentin Groebner ist Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Er hat über Korruption geschrieben (Gefährliche Geschenke, 2000), über Gewaltbilder (Ungestalten, 2003), über die Entstehung von Ausweisen und Steckbriefen (Der Schein der Person, 2004) und über die Geschichte und Selbstdarstellung der Mittelalterforschung (Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen, 2008). Zur Zeit beschäftigt er sich mit der Geschichte des menschlichen Körpers als Ware und mit Geschichtsinszenierungen und Reenactments.
Kolloquium Intentionalität
Prof. Dr. Valentin Groebner, Universität Luzern
Datum: 12. Mai 2011
Zeit: 09:30 - 16:30 Uhr
Ort: Universität Bern, UniS, Schanzeneckstrasse 1, Raum A017